Visionen braucht das Land

1. Mai „Tag der Arbeit“. Ökumenischer Gottesdienst am 1.5.2020 zum Start der Maidemonstration vor dem Musiktheater. Predigt von Pastor Dieter Heisig:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Schwestern und Brüder,

Visionen braucht das Land! „Wer Visionen hat, sollte in die Politik gehen.“ Ich hoffe, Helmut Schmidt würde mir die Umdrehung seines Zitates nachsehen. Er soll ja eher den Arzt bei Visionen empfohlen haben.

Das mag im Einzelfall bei einer psychischen Erkrankung helfen – aber ein 1.Mai; Europa; eine Politik ohne Visionen – das führt im Zweifel dann in die Leere oder noch schlimmer: das spielt dann Marktradikalen, Nationalisten und Faschisten in die Hände.

Das ist nicht nur die Überzeugung eines kleinen Pfarrers in Gelsenkirchen, sondern diese Erkenntnis hatten schon Menschen vor über 2000 Jahren. So heißt es in der Bibel: ,,Ein Volk ohne Vision geht zugrunde“ (Spr. 29,18).

Damals waren es die Propheten, die manche gesellschaftlichen Missstände kritisierten. So wetterten sie gegen eine völlig ungerechte Verteilung des Reichtums; gegen das Ausspielen wirtschaftlicher Macht und gegen Krieg und Gewalt.

Solchen Zuständen setzten sie ihre Vorstellung, ihre Vision entgegen: sie machten die Menschen mit dem Willen Gottes vertraut, der die Menschen einlädt, Grenzen zu überwinden – auch und gerade die von Volk, Nation, Sprache und Hautfarbe.Sie warben für ein Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit; im Einklang mit der Natur.

Heute würden sie sich unserer Sprache bedienen und werben für: internationale Kooperation, für ein friedliches Zusammenleben der Völker, für soziale Gerechtigkeit, für ökologische Verantwortung.

Und ist es nicht genau das, was das diesjährige Maimotto zum Ausdruck bringen will, wenn es heißt:“ Europa – jetzt aber richtig“?

Darin wird deutlich, dass wir ja zu Europa sagen – aber ja zu einem Europa, das nicht nur den Kapitalinteressen dient; ja zu einem Europa, das für Menschen aller Hautfarben da ist; ja zu einem Europa, das sich nicht selbst die Lebensgrundlagen versaut und ja zu einem Europa, das sich wieder auf seine Entstehung besinnt und deshalb nicht mehr Krieg und Gewalt als Mittel der Politik sieht, sondern dass klar ist: eine Zukunft, eine gute Zukunft haben wir in Europa nur, wenn wir dem elenden Nationalismus abschwören und den wieder erstarkten Rassismus endlich als das benennen, was er ist: ein Verbrechen an den Menschen.

Wenn wir die Dinge beim Namen nennen, dann ist ein erster Schritt getan. Denn es ist doch wahrlich nicht schwer, diese wieder in den öffentlichen Diskurs geschobenen Kampfbegriffe als solche zu entlarven – denn was soll das denn bitte sein: „völkische Identität“ oder „nationale Interessen“ oder „christliches Abendland“?

Ein christliches Land wären wir doch, wenn überhaupt, erst dann, wenn solche Töne nicht mehr zu hören wären.

Was wir doch bitter nötig haben ist keine Rückbesinnung, sondern den Blick nach vorne.

Die Entstehung des europäischen Projektes war ja das Ergebnis der bitteren historischen Lektion, die wir zu lernen hatten. Aber das reicht eben nicht für alle Zeiten. Sondern nun brauchen wir Ideen, einen Wertekanon, gerechte Regeln und Ziele, die den Menschen dienen – und zwar nicht nur Dir und mir, sondern eben allen.

Kurz: wir brauchen eine Vision – eine Vision von einem Europa, das Krieg und Gewalt ausschließt; ein Europa, das soziale Gerechtigkeit schafft; ein Europa, das die Lebensgrundlagen der Menschen nicht zerstört und ein Europa, in dem Rassismus und Nationalismus keinen Platz mehr haben.

Aus solchen Elementen bestanden und bestehen ja die Visionen und die Bilder, die bereits die Profeten vor so langer Zeit formulierten.

Da ist das Bild vom Garten Eden, in dem man auskömmlich leben kann – da ist das Bild von der großen Festtafel, an die alle eingeladen sind, um zu essen und zu trinken – da kommen Menschen aus aller Herren Länder zusammen und vor allem: zu ihrem Recht.

Da werden die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet – und Frieden und Gerechtigkeit werden sein wie ein nie versiegender Bach.

Wer wollte solchen Visionen denn nicht zustimmen?

Von solchen Visionen lebt die Christenheit seit über 2000 Jahren, weil auch Christus selbst sie nicht nur gefordert und verkündet, sondern gelebt hat.

Gerne gestehe ich ein: noch sind wir nicht da. Aber es ist doch auch nicht alles aussichtslos und vergebens; dennJahrzehnte des Friedens – zumindest für weite Teile in Europa – ist das Nichts?

Ein wirtschaftlicher Reichtum – zumindest für viele in Europa – ist das Nichts?

Ein stabiles Rechtssystem – zumindest in weiten Bereichen – ist das Nichts?

Das sollten wir uns von niemandem mehr nehmen lassen! Und wir sollten alles daran setzen, dieses Europa weiter zu entwickeln in Richtung Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.

Aber: das kommt nicht von allein, sondern dazu bedarf es Menschen, die sich dafür engagieren.

Aber: wer sich dafür einsetzt, der/die braucht Zielvorstellungen und Ideen für Wege dahin. Braucht benennbare Zukunftsvorstellungen. Kurz: braucht Visionen!

Und deshalb: wer von Euch auch diese Visionen hat und mit anderen teilt; der/ die gehe bitte nicht zum Arzt, sondern in die Politik, in Gewerkschaften in Kirchen.

Ich bin mir sicher: so verstanden, würde mir auch Helmut Schmidt die Umkehrung seines Zitates nicht übelnehmen.

Und wir alle wären weiter auf unserem Weg zu einem richtigen Europa!

Dazu helfe uns Gott!
Amen!

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