Quereinstieg – von der Polizei ins Klassenzimmer

Quereinstiegerin Annja N. erzählt aus ihrem Schulalltag an einer schwedischen Schule.

Seit 3 Jahren arbeite ich als Lehrer Vikariat (Vikariat = Vertretung) an einer Grundschule in einer schwedischen Kleinstadt. Die Schule hat etwa 700 Schüler – Klasse 1-6. Ich bin 58 Jahre alt und Quereinsteigerin. Vorher war ich 36 Jahre im schwedischen Polizeidienst beschäftigt. Als ich mich bei der Kommune als Schul-Vikariat beworben habe, wurde ich aufgrund meiner Qualifikationen als Lehrer Vertretung eingestuft. Ich kann also Unterricht halten. Andere Quereinsteiger mit geringerer Qualifikation werden als „Ressource Vikariat“ zur Unterstützung des Lehrers eingesetzt oder zur Begleitung von Schülern mit besonderen Bedürfnissen (Elev Assistent).

Alle Vikariats sind bei der Kommunalen Schulbehörde in einer Datenbank erfasst und die verschiedenen Schulen können uns nach Bedarf anfordern, wenn ein Lehrer ausfällt oder Unterstützung braucht. Vikariats werden nach Stunden bezahlt. Das hat einerseits den Vorteil, dass wir unsere Arbeitszeit relativ flexibel gestalten können. Ich kann sagen, an welchen Tagen und wie viele Stunden ich arbeiten möchte. Andererseits verdienen wir in den Ferien kein Geld. Die Bezahlung an sich ist kein besonderer Anreiz, Vikariat zu werden. Obwohl ich eine eigene Klasse habe und Vollzeit arbeite, verdiene ich fast 50 % weniger als früher als Polizistin.

Die erste Schule, die mich damals angefordert hat, ist die Schule, an der ich heute noch bin. Anfangs habe ich Vertretungsstunden gegeben, wenn ein Lehrer ausfiel. Oder ich war stundenweise zur Unterstützung mit in einer Klasse, oder ich war Elev Assistent. Quereinsteiger bekommen keine pädagogischen oder didaktischen Schulungen, bevor sie in den Klassen eingesetzt werden. Es gibt auch keine Qualitätssicherung seitens der Schule. Ob es gut läuft oder nicht, wird recht schnell von den Kindern über die Eltern zur Schulleitung getragen. Dann wird der Vikariat häufiger oder seltener angefragt, oder mit anderen Aufgaben betraut.

Letzten Winter habe ich eine fünfte Klasse übernommen, bei der schon mehrere Lehrer und Vertretungen aufgegeben hatten. Die Kinder waren völlig demotiviert und frustriert und entsprechend aufsässig. Sie haben mir vorgehalten, dass ich auch bald wieder gehe und nicht bei ihnen bleibe. Das habe ich ihnen versprochen und gehalten, obwohl es mich oft an meine Grenzen gebracht hat. Der Umgangston in der Klasse war erschreckend. Beschimpfungen wie Hure, Schlampe, fick dich und so weiter waren Alltag. Ermahnungen halfen nichts. Also habe ich eine hübsche Kladde gekauft und bei jedem schlimmen Schimpfwort habe ich in das Buch geschrieben, wer was gesagt hat. „Dienstag, 10.00 Uhr, Felix hat zu Lina blöde Hure gesagt, Anlass war…“

Die Kinder waren geschockt und unterstellten mir: „Das schreibst du nur auf, um es unseren Eltern zu petzen, damit wir Ärger bekommen.“ „Nein, alles was ich aufschreibe, bleibt in unserer Klasse und immer am Freitag reden wir darüber.“ Freitags haben wir darüber geredet. Anfangs fanden sie es noch lustig und haben gegrölt. Aber jeder Eintrag in das Buch wurde von allen genau registriert und schnell war es den Kindern unangenehm, dass wir über ihr Verhalten reden würden. Nach einigen Wochen konnte ich die Kladde wegpacken. Im Sommer habe ich die Kinder einmal zu uns nach Hause eingeladen. Sie haben mit unseren Schafen und meinem Hund gespielt, wir haben im See gebadet und gegrillt. Davon reden sie heute noch.

Am Abschlusstag des Schuljahres habe ich von allen Kindern Dankesbriefe bekommen, dass ich sie nicht aufgegeben habe und bei ihnen geblieben bin. Sie loben mich als die beste Lehrerin, die sie je hatten, zeigen sich aber auch sehr einsichtig, dass ihr Verhalten schlimm war. Eine Schülerin schreibt „Du hast es geschafft, dass unsere Klasse ruhiger und besser geworden ist.“ Sie haben auch erkannt, dass ich eine etwas unkonventionelle Lehrerin bin. Ein Junge stellt fest: „Du hast viele lustige Ideen.“ Der unbändigste Junge von allen, vor dem alle Lehrer Angst haben, hat mir eine Geranie geschenkt. Sie blüht in meinem Wohnzimmerfenster. Immer wenn er mich in der Schule sieht, rennt er auf mich zu, schreit „ANNJA!!!“ und umarmt mich so fest er kann. Das Halbjahr war wirklich hart, aber die Briefe und das Verhalten der Kinder sind ein schöner Lohn.

Das schwedische Schulsystem ist sehr gut. Nur fehlt es genau wie in Deutschland und anderen Ländern an Lehrern. Es werden auf kommunaler Ebene viele Fehlentscheidungen getroffen. Da fehlt oft auch die Realitätsnähe und die Flexibilität für schnelles Handeln. Beispielsweise ist es ein großes Problem, dass die Kinder erst im dritten Jahr eine psychologische Beurteilung erhalten und dann entsprechend unterstützt oder gefördert werden. Ich habe jetzt eine erste Klasse mit 25 Schülern, die völlig aus dem Raster fallen. Viele der Kinder bräuchten zumindest zeitweise eine Einzelbetreuung und spezielle Förderung. Nicht erst in der dritten Klasse, sondern jetzt.

Ihre eigentliche Lehrerin war drei Tage in der Klasse, dann hat sie gekündigt. Jeder Lehrer, der auf meine Kinder trifft, sagt, sowas hat er noch nie gesehen: 25 Kinder ohne Grips, Ideen und Einfühlungsvermögen. Sie können gar nichts, sie interessieren sich für nichts, sie können nicht zuhören, sie können sich nicht ausdrücken, sie wollen nicht lernen, haben keinen Respekt vor Erwachsenen – natürlich auch nicht vor Lehrern. Sie schimpfen, fluchen, drohen, reagieren mit Wutanfällen, brüllen und verweigern sich. Und das mal 25. Einer macht immer Probleme. Momente, wo sie ruhig die gestellten Aufgaben erledigen oder zuhören, gibt es nicht. Die Vier oder Fünf, die brav auf ihrem Platz sitzen und lernen wollen, gehen in diesem Haufen völlig verloren.

Ich war eigentlich an einer anderen Schule für den Englisch- und Deutschunterricht in einer 7. Klasse eingeplant und hatte mich auf ein „entspannteres“ Schuljahr gefreut. Dann kam der Anruf meiner früheren Rektorin: „Annja, wir haben keinen Lehrer für diese Klasse.“ Oder eigentlich „Wir haben keinen Polizisten für diese Klasse.“ Ich habe Temperament und eine starke Stimme, ich bin diplomatisch, aber auch durchsetzungsstark – das lernt man bei der Polizei. Aus meinen Polizeijahren weiß ich auch sehr genau, wie diese Kinder enden, wenn sie nicht richtig geleitet werden. Deshalb habe ich mich überreden lassen. Aber dieser 25 Kinder sind wirklich zu viel, obwohl ich die halbe Zeit Unterstützung durch eine Ressource Vikariat habe. Ende des Halbjahres gebe ich die Klasse ab. Bis dahin habe ich die Kinder wahrscheinlich halbwegs soweit, dass man mit ihnen arbeiten kann und das zweite Halbjahr wäre leichter. Um der Kinder Willen tut es mir auch leid. Aber länger schaffe ich es nicht. Es kann nicht sein, dass ich als einzelner Lehrer (noch dazu Vikariat) die Fehler im System auf Kosten meiner Gesundheit korrigieren muss.

Nachtrag: Heute hat meine Rektorin angerufen. Ab Januar übernimmt eine 24-jährige Lehrerin die Klasse. Sie hat gerade ihr Examen abgeschlossen und es wird ihre erste Klasse sein. Es kann von Vorteil sein, dass sie jung und unerfahren ist. Oder es wird eine Katastrophe. Aber es gibt keinen anderen Lehrer. Ich werde sie weiter als Ressource Vikariat unterstützen. Das ist, glaub ich eine gute Lösung. Auf alle Fälle bin ich erleichtert, dass ich nicht mehr die Verantwortung für diese Klasse tragen muss.

 

Gesprächsführung, Text & Fotos: Dagmar Krutoff

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